Morgan Es sind drei Monate vergangen, seit meinem sechzehnten Geburtstag, und ich bin mir nicht sicher, ob ich schreien oder weinen soll. Jeden Morgen wache ich auf einer leeren Alpha-Etage auf. Meine ganze Familie ist schon aus dem Haus, wenn ich aufwache, und egal, was ich versuche, sie ignorieren mich entweder oder sagen mir, sie seien zu beschäftigt. Solange ich mich erinnern kann, war ich immer mit einem meiner Brüder zusammen, wenn ich nicht in der Schule war, half, wo ich konnte, und lernte im Laufe der Jahre viel. Während meines ersten Schuljahres lernte ich schnell, dass Mädchen nur in der Hoffnung, einen meiner Brüder zu treffen, mit mir befreundet sein wollten. Sie würden keine Ausrede finden, um zu gehen, wenn keiner in der Nähe war. Manche Leute wollten nicht wegen dem, wer ich war, sondern wegen dem, wen ich kannte, mit mir befreundet sein. Wegen meines Mangels an echten Freunden half ich meinen Brüdern, wie ich konnte – als junger Welpe Akten ablegen oder Kaffee holen, und als ich älter wurde, half ich ihnen bei wichtigeren Dingen. Dad ließ mich an einem kleinen Schreibtisch in seinem Büro sitzen, solange ich ruhig war. Ich saß einfach da und las, schrieb oder zeichnete. Mom sagte immer, dass ich durch das Beobachten der Arbeit meines Vaters und meiner Brüder verstehen würde, welche Art von Arbeit mein Gefährte täglich zu verrichten hätte. Sie sagte, dass das etwas sei, was die meisten Lunas heutzutage nicht mehr verstehen – sie sind zu sehr mit ihren Partys und Abendessen beschäftigt. Da ich so viel Zeit in Dads Büro oder den Büros meiner Brüder verbringe, kenne ich jeden Winkel unseres Rudelhauses. Ich kenne jede Position unserer Krieger, die nicht auf Patrouille sind, und ich kenne jede Route, die unsere Patrouillen laufen. Sie laufen nie zweimal hintereinander dieselbe Route, und unsere versteckten Krieger dienen als zusätzliche Sicherheit. Ich weiß, mit welchen Rudeln wir eine Allianz haben, welche freundlich sind und welche wir meiden müssen. Ich weiß auch, wer die Wölfe und Lykaner in der Führung jedes Rudels sind und wer in Zukunft die Führung übernehmen soll. Ich weiß mehr über unser Rudel als alle meine Brüder zusammen. Manchmal hörte ich Dad darüber reden, wie andere Alphas ihre Welpen verwöhnen und ihnen alles geben, worum sie bitten. Dad war nicht so – er ließ uns unsere „Extras“ verdienen, wie er sie nannte, was normalerweise Dinge waren, die wir nicht wirklich brauchten. Ich verdiente sie mir, indem ich Zeit in der Küche verbrachte und den ganzen Tag über bei der Zubereitung von Mahlzeiten half. Ich liebe es, kochen oder backen zu können. Zuerst maß ich die Zutaten für die Omegas ab. Als ich älter wurde, half ich beim Schneiden von Obst und Gemüse. In den letzten Jahren habe ich beim Kochen und Backen für unsere Rudelmitglieder geholfen, und Mom ist wirklich stolz auf das, was ich bisher erreicht habe. Da ich so viel Zeit mit Dad und meinen Brüdern verbrachte, beschloss Mom, dass wir einmal pro Woche einen Mutter-Tochter-Tag haben würden. Das konnte ein Tag im Spa sein, ein Einkaufsbummel oder einfach nur im Garten sitzen und über wichtige Ereignisse in meiner Zukunft sprechen. Ich würde meine Tage lieber auf dem Trainingsgelände mit meinen Brüdern und den Kriegern verbringen als mit Mom und den anderen Lunas, die darüber reden, worüber auch immer sie reden. Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich kein Mädchen-Mädchen, und das war ihre Art, eine Bindung zu mir aufzubauen. Ich glaube, sie hat heimlich alles aufgeschrieben, was ich ihr erzählt habe, damit sie weiß, wie sie jede Veranstaltung nach meinem Geschmack organisieren kann. Ich habe meine Tage mit Mom wirklich genossen – solange wir nur zu zweit waren. Wenn andere Frauen zu uns kamen, endete das Gespräch immer in einer Diskussion über Partys und ihre Gebote und Verbote. Aber wir hatten in den letzten drei Monaten keinen Mutter-Tochter-Tag mehr. Nach etwa zwei Wochen versuchte ich, es beim Mittagessen mit ihr anzusprechen, aber sie wimmelte mich ab und sagte, sie sei zu beschäftigt. Sie ist immer irgendwo mit unseren Beta- und Gamma-Frauen unterwegs. Sie hört sogar auf zu reden, wenn ich den Raum betrete. Ich versuchte, in diesen ersten zwei Wochen mit meinen Brüdern und Dad zu reden, aber ich bekam die gleiche Antwort von ihnen. Dad sagt kaum ein Wort zu mir – selbst ein einfaches „Guten Morgen“ oder „Hallo“ scheint zu viel zu sein. Alles, was ich von meinen Brüdern bekomme, sind „Nicht jetzt“, „Ich bin beschäftigt“, „Keine Zeit“ und andere Bemerkungen dieser Art. Sogar mein Training hat aufgehört, da unser Gamma nie mehr auftaucht. Frühstück, Mittag- und Abendessen werden in Stille verbracht, obwohl ich weiß, dass sie über die Geistesverbindung miteinander sprechen. Ich kann sie nicht benutzen, da Dad mich immer noch nicht in das Rudel initiiert hat, und jedes Mal, wenn ich versuche, es anzusprechen, unterbricht er mich. Jeder Welpe wird an seinem sechzehnten Geburtstag in das Rudel initiiert, aber aus irgendeinem Grund hat Dad vergessen, die Zeremonie nach meiner Sweet-Sixteen-Party abzuhalten. Nach einem Monat hörte ich auf, zum Essen in den Speisesaal zu gehen, aber ich bezweifle, dass es jemand bemerkt hat. Vor etwa einem Monat wanderte ich auf dem Territorium herum und überlegte, was ich mit meinem Leben anfangen sollte, als ich in der Nähe unserer nördlichen Grenze ein kleines Häuschen fand. Wenn ich nicht auf dem Trainingsgelände bin, bin ich im Häuschen und versuche, einen neuen Sinn im Leben zu finden – und ich glaube, ich habe ihn gesehen. Ich werde mich für die Armee des Königs anmelden, aber ich bin mir noch nicht sicher, welche Art von Position ich bekommen möchte. Im Laufe des letzten Monats habe ich einiges in das Häuschen gebracht, und ich verbringe meine Tage dort mit Tests. Ich hoffe, diese Tests werden mir helfen festzustellen, worin ich gut bin und welche Positionen in der Armee des Königs am besten zu mir passen. Heute werde ich zuerst unser Archiv aufsuchen, bevor ich zu meinem Zufluchtsort gehe. Ich werde meine Akte aus dem Archiv holen und sie selbst aktualisieren. Ich bezweifle, dass sie in den letzten drei Monaten jemand angesehen hat, oder jemand hätte bemerkt, dass ich nicht in das Rudel initiiert wurde. Wie jeden Morgen mache ich mir mein eigenes Frühstück. Sobald ich fertig bin, beseitige ich jede Spur davon, dass ich dort war. Ich packe ein paar Sachen aus der Speisekammer in meinen Rucksack, bevor ich aus der Tür gehe. Als ich die Treppe hinuntergehe, bemerke ich, dass selbst die Rudelmitglieder zu beschäftigt sind, um mich zu begrüßen. Niemand hält mich auf, als ich das Archiv betrete. Es dauert nur ein paar Minuten, um meine Akte zu finden. Wie ich erwartet hatte, ist der letzte Eintrag von meinem sechzehnten Geburtstag, geschrieben von Dad. Es steht nur da, dass ich an diesem Tag sechzehn geworden bin. Ich schiebe die Akte in meinen Rucksack und gehe durch die Hintertür in Richtung meines Häuschens. Ich treffe unterwegs niemanden, und vor einer Woche hätte mich das traurig gemacht – aber jetzt nicht mehr. Ich werde mein Leben so leben, wie ich es will, und aufhören zu hoffen, dass meine Familie mich endlich bemerkt. Diese Zeiten liegen hinter mir. Ich habe genug Tränen geweint und genug schlaflose Nächte gehabt. Ich werde mich auf meine Zukunft konzentrieren – eine Zukunft fernab von diesem Rudel und meiner Familie.