Das Telefon klingelte Sturm, bevor Ashley endlich danach griff und abgehetzt abnahm: „Hallo...?“
Am anderen Ende herrschte zuerst Stille, dann ein Donnerwetter: „Ashley, pennst du noch? Hast du etwa vergessen, was heute ansteht? Taxi rufen, sofort, und dalli hierher!“
Wie von der Tarantel gestochen fuhr Ashley aus dem Schlaf.
Sie rappelte sich hoch, und als sie die Uhrzeit erkannte, entfuhr ihr ein entsetztes „Mist!“
Was war los?
Sie hatte den Wecker doch gestellt, warum hatte das verdammte Ding nicht geklingelt?
Aber jetzt war keine Zeit für Ursachenforschung. Regisseur Zedd castete heute für sein neues Stück, und sie musste, wie Alice gesagt hatte, schleunigst zum Set.
Nachdem sie sich blitzschnell das Gesicht gewaschen und in ihre Klamotten gesprungen war, stürmte Ashley aus dem Haus.
Im Restaurant unten saßen Bobby Sanchez und der Rest der Familie beim Frühstück.
„Oma, Papa, Tante, guten Morgen.“
Egal, wie sehr die Zeit drängte, Ashley vergaß nie ihre Manieren. Natürlich hielt sie auch die Augen offen und taxierte die Lage. Die komplette Familie war versammelt, nur Mia fehlte.
Wo die wohl steckte, war ja wohl sonnenklar.
„Ashley, setz dich doch zum Frühstück!“, säuselte Sally mit aufgesetzter Herzlichkeit.
Ach ja, sie gab sich ja so Mühe für ihre Tochter.
„Tante, ich muss los zum Studio, ich bin schon spät dran! Ich esse nichts, lasst es euch schmecken.“
Damit entwand sich Ashley geschickt Sallys zudringlicher Hand und warf Oma Sanchez und Bobby Sanchez eine flüchtige Welle zu.
...
Ashley hetzte zum Set, aber sie war trotzdem fünf Minuten zu spät.
Der Vorraum für die Auditions im zweiten Stock war bereits proppenvoll.
Weil sie zu spät war und sich noch nicht einmal hatte anmelden können, geriet sie in Panik, als sie die dichte Menschentraube vor sich sah.
„Hey... Entschuldigung, Entschuldigung!“
Ashley gab sich alle Mühe, aber die Menge war einfach zu dicht, es gab kein Durchkommen, und sie stand ratlos da.
Plötzlich packte sie jemand von hinten unsanft am Arm und zerrte sie zur Seite.
„Hey, was soll das...?“
„Mädchen, endlich bist du da!“ Alice stopfte ihr den Anmeldebogen in die Hand. „Du hast Nerven, bei der Zeit noch auszuschlafen. Deine liebe Halbschwester ist schon längst hier!“
Ashley runzelte die Stirn und murmelte nachdenklich: „Ich ahnte es schon!“
„Was? Machen Mutter und Tochter schon wieder Zirkus?“, fragte Alice.
„Schwer zu sagen, erzähl ich dir später!“ Ashley schnappte sich den Bogen und füllte ihn hastig aus.
„Und, kannst du deinen Text? Sitzt er?“, hakte Alice nach.
Ashley nickte selbstsicher. „Keine Sorge, den hab ich drauf!“
Alice blickte sich um, beugte sich zu Ashley vor und flüsterte: „Dieses Mal werden alle Rollen gecastet, außer dem Helden und der Heldin. Das ist deine Chance!“
Ashley war verdutzt. „Wurde nicht gesagt, dass auch die Hauptrolle gecastet wird?“
Alice verdrehte die Augen. „Du bist doch nicht erst seit gestern im Showgeschäft. Das angebliche Casting für die Hauptrolle ist doch nur ein Marketing-Gag. Konzentrier dich lieber auf die Rolle der zweiten weiblichen Hauptrolle. Wenn du die kriegst, hast du ausgesorgt.“
Ashley rollte innerlich mit den Augen, dann huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht. „Ich weiß!“
…
Das Casting lief in zwei Runden. In der ersten Runde ging es nur um Image und Aussehen. Wer nicht gut genug aussah, flog sofort raus!
Regisseur Zedd hatte einen fast schon unbarmherzigen Blick für Ästhetik, also schafften es nicht mal 20 % der Teilnehmer in die nächste Runde.
Tatsächlich, nach der ersten Runde war es im zuvor so vollen Vorraum deutlich leerer geworden. Nur noch ein paar Dutzend Mädchen saßen auf den Bänken und warteten auf ihr Casting.
Ashley musterte sie. Ob unschuldig und lieblich oder glamourös und aufreizend – allesamt echte Schönheiten.
Aber um in einem Stück von Regisseur Zedd mitzuspielen, reichte es nicht, einfach nur hübsch zu sein. Ohne schauspielerisches Talent, keine Chance, selbst wenn man so makellos war wie eine griechische Statue.
Ihr Blick wanderte umher und kreuzte sich mit einem feindseligen Blick, der sie zu fragen schien, was sie hier überhaupt zu suchen hatte.
Ashley schenkte Mia ein süßliches Lächeln, was diese nur noch wütender machte.
Mia war offensichtlich alles andere als begeistert, dass Ashley hier aufgetaucht war.
Aber genau das wollte Ashley erreichen: Je wütender Mia war, desto besser.
Im letzten Leben hatten die beiden ihr mit unlauteren Mitteln alles genommen, was ihr gehörte. In diesem Leben würde sie alles daransetzen, Mia das zu nehmen, was diese sich wünschte. Sie sollte den bitteren Geschmack des Verlusts kennenlernen.
Und noch viel wichtiger: All das stand ihr zu, nur ihr.
„Mia Sanchez, Ashley Sanchez... Hey, die heißen ja beide Sanchez mit Nachnamen. Sind das etwa Schwestern?“
Schließlich waren die beiden an der Reihe. Als Ashley die entmutigten Gesichter der Mädchen sah, die vor ihnen herauskamen, wusste sie, dass ihre Chance gekommen war.
Aber die Konkurrenz war hart: Mia war in derselben Gruppe, das bedeutete, die beiden würden gegeneinander antreten.
Vielleicht... war es Schicksal.
Als Ashley den Castingraum betrat, saßen ihr mehrere Personen hinter einem Tisch gegenüber.
Ashley überflog die Runde. Sie kannte sie alle. In der Mitte saß Regisseur Zedd, einer der einflussreichsten Männer in Colorado, links und rechts von ihm sein Produzent, sein Regieassistent und einige Mitglieder des Kreativteams.
In ihrem früheren Leben hatte Mia die Rolle der zweiten weiblichen Hauptrolle in diesem Stück bekommen. Obwohl ihre schauspielerischen Leistungen eher mittelmäßig waren, war die Rolle der zweiten Hauptdarstellerin sehr einprägsam, was ihr viele Pluspunkte einbrachte.
Laut Alices Informationen stand die Besetzung der weiblichen Hauptrolle bereits fest, also war die zweite Hauptrolle natürlich das Objekt der Begierde aller.
Aber da es ja dieses angebliche Casting gab, kannten die meisten Leute die Hintergründe wohl nicht.
Ashley warf Mia einen verstohlenen Blick zu und sagte dann mit gespielter Unbefangenheit: „Guten Tag, Herr Zedd. Darf ich fragen, ob die Rollen beim Casting per Los oder durch Selbstvorschlag vergeben werden?“
„Natürlich, per Losverfahren“, antwortete der Regieassistent an Zedds Seite.
Ashley lächelte zuckersüß. „Wäre es vielleicht möglich, dass wir uns selbst vorschlagen?“
Regisseur Zedd hob den Kopf und musterte sie. „Warum wollen Sie sich selbst vorschlagen?“
„Als Schauspieler sollte man sich selbst am besten kennen. Die zugelosten Rollen passen vielleicht gar nicht zum eigenen Typ. Warum also nicht einfach selbst vorschlagen? Wäre das nicht viel sinnvoller?“, entgegnete Ashley.
Regisseur Zedd überlegte einen Moment. „Wenn Sie sich eine Rolle aussuchen dürften, welche würden Sie gerne spielen?“
„Ich...“, Ashley zögerte, warf Mia einen beiläufigen Blick zu und fuhr dann fort: „Ich hätte gern die...“
„Herr Zedd!“, warf Mia dazwischen. „Ich habe mich intensiv mit der Rolle der Heldin auseinandergesetzt und den Text perfekt einstudiert. Ich möchte mich hiermit für das Casting der Heldin empfehlen.“
Regisseur Zedd lächelte. „Dann erzählen Sie mal, wie haben Sie die Rolle verstanden?“
Mia, die sich im Aufwind wähnte, warf Ashley einen triumphierenden Blick zu und begann dann: „Die Heldin ist nicht nur wunderschön, sondern auch sanft und gütig. Sie ist sehr tolerant gegenüber Freunden und Liebhabern. Selbst als ihre Schwester sie verletzt, ist sie am Ende bereit, ihr zu vergeben. Jedes Mal, wenn ich das Ende des Drehbuchs lese, kommen mir die Tränen. Sie ist das Idealbild einer Heldin, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Und ich bin im Grunde genauso, deshalb glaube ich... dass ich die ideale Besetzung für diese Rolle bin.“
„Oh? Sind Sie sich da wirklich so sicher?“, hakte Regisseur Zedd nach.
„Absolut! Unsere Charaktere sind sich so ähnlich, dass ich die Rolle quasi aus dem Bauch heraus spielen kann!“, säuselte Mia mit aufgesetzter Bescheidenheit.
Regisseur Zedd nickte leicht. „Kennen Sie außer der Heldin auch noch andere Rollen?“
„Nein, nein!“, beeilte sich Mia zu versichern. „Ich finde, die Heldin passt einfach am besten zu mir!“
Regisseur Zedds Augen funkelten.
Ashley, die hellwach war, erkannte ihre Chance und warf ein: „Herr Direktor, zufällig möchte ich mich für die Rolle der zweiten weiblichen Hauptrolle empfehlen. Wie wäre es, wenn wir die Szene mit Lilys Selbstmord spielen?“
Das war ein Trumpf, den Regisseur Zedd ganz sicher zu schätzen wusste. In ihrem früheren Leben war dieses Drama nach der Ausstrahlung ein Riesenerfolg gewesen. Nicht nur die Hauptdarsteller, auch viele der Nebendarsteller waren über Nacht berühmt geworden. Die Serie war auch ein Jahr nach der Ausstrahlung noch in aller Munde. Kein Wunder, dass Mia unbedingt dabei sein wollte.
Ashley hatte diese Szene gewählt, weil sie genau wusste, dass die schauspielerischen Fähigkeiten der zweiten Hauptdarstellerin hier am besten zur Geltung kamen.
In dieser Szene verrät Lily ihre Schwester Rose. Nachdem sich die beiden Schwestern endgültig entzweit haben, erkennt Lily, dass der männliche Hauptdarsteller Rose immer geliebt hat. Trotzdem ist Lily bereit, ihn zu retten und nimmt Gift. Kurz darauf stirbt sie in Roses Armen.
Obwohl es um die weibliche Hauptrolle und die Heldin geht, ist Lilys Geschichte zweifellos die packendere.
Mia protestierte sofort. „Aber die Entscheidung, welche Szene gespielt wird, liegt doch wohl beim Regisseur, oder?“
Mia war ja nicht blöd. Sie wusste genau, dass Ashley diese Szene nicht ohne Grund gewählt hatte. Sie musste ihr einen Vorteil verschaffen.
Ashley schwieg und lächelte Regisseur Zedd erwartungsvoll an.
Regisseur Zedd taxierte die beiden. „Wenn Sie beide so von sich überzeugt sind, dann zeigen Sie mir mal, was Sie draufhaben. Spielen Sie die Szene!“
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