MICHAEL
„Du hörst ja nicht mal zu!“
Wie von einem Schlag getroffen kehrte ich in die Realität zurück, als Alisons schrille Stimme an mein Ohr drang, meiner Freundin seit zwei Monaten. Sie saß vor mir und ihre Augen funkelten mich wütend an.
„Sorry… was hast du gesagt?“, kicherte ich verlegen. Ich hatte diese blöde Angewohnheit, mitten im Gespräch einfach abzuschalten. Meine Freunde zogen mich deswegen immer auf und nannten mich Tagträumer.
„Ich habe dir von dem Abendessen am Samstag erzählt. Du weißt schon, damit du meine Familie kennenlernst, erinnerst du dich?“, sagte Alison. „Sag mir nicht, dass du das vergessen hast!“, keuchte sie ungläubig.
„Ach ja, stimmt. Das Abendessen mit den Eltern. Gruseliges Pflaster“, sagte ich und kratzte mich am Kopf, während ich krampfhaft versuchte, mich an unser Gespräch von letzter Woche zu erinnern.
Ich hatte Alison in meinem Einführungskurs für Bildhauerei an der Uni kennengelernt, und es hatte sofort gefunkt. Ich fand sie unglaublich süß mit ihren wilden Locken, den großen braunen Augen und den vollen Lippen. Ich feuerte einen kitschigen Anmachspruch ab, und sie fand mich witzig.
Zumindest hat sie das behauptet, aber sind wir mal ehrlich. Es war wohl kaum meine Persönlichkeit, die sie sofort in ihren Bann gezogen hatte.
Sie wollte mit mir ausgehen, weil ich der bestaussehendste Typ in der Klasse war. Gut, ich war ZUFÄLLIG auch der EINZIGE Typ in diesem Kurs, aber das ist ja eigentlich egal.
„Michael! Konzentrier dich! Du bist schon wieder weggetreten. Ich habe gesagt, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, meine Eltern kennenzulernen oder so. Sie sind total lieb, und ich bin mir sicher, sie werden dich mögen.“ Alison spielte mit einer Strähne ihres Pferdeschwanzes und lächelte.
„Klar werden die mich mögen. Jeder mag mich. Ich bin eine glatte Zehn, Baby.“ Ich grinste selbstgefällig.
Okay, ich weiß, was du jetzt denkst. Was für ein arroganter Mistkerl! Ich schwöre, normalerweise bin ich echt nicht so schlimm.
Alison verdrehte die Augen. Ich bin echt überrascht, dass sie noch keine bleibenden Schäden an ihren Augäpfeln davongetragen hat, so oft, wie ich sie mit meiner unerträglichen Art schon dazu gebracht habe. Aber ich kann doch nichts dafür, dass Perfektion durch meine Adern fließt!
„Jetzt hör mal zu. Vielleicht musst du dir wegen meiner Eltern keine Sorgen machen, aber es gibt da jemanden, vor dem du dich wirklich in Acht nehmen solltest“, sagte sie und hielt inne. Ihr Gesichtsausdruck wurde plötzlich todernst, als ob sie mir gleich ihr tiefstes Geheimnis anvertrauen würde.
„Und wer wäre das?“, fragte ich und kniff die Augen zusammen.
„Mein älterer Bruder, Jacob“, sagte sie leise.
Hmm… ich erinnerte mich, dass Alison mal von ihrem älteren Bruder erzählt hatte, der außerhalb des Bundesstaates studierte und uns gelegentlich in den Ferien besuchte. Er war angeblich fünf Jahre älter als sie und extrem beschützend, was seine kleine Schwester anging. Das bedeutete wohl, dass ich meinen Charme besonders gut spielen lassen musste, um nicht mit gebrochenen Knochen nach Hause zu fahren.
„Sollte ich mir Sorgen machen? Ich meine… du hast doch gesagt, er ist nett, oder?“, fragte ich. „Sag mir bloß nicht, dass er heimlich ein illegaler Underground-Käfigkämpfer ist!“
„Ja, er ist nett, und nein, er ist kein Kämpfer, aber das heißt noch lange nicht, dass er dir nicht den Arsch aufreißen würde. Ich bin seine einzige Schwester, und er erwartet von meinem Freund, dass er sich wie ein perfekter Gentleman benimmt, wenn du verstehst, was ich meine.“ Alison grinste verschmitzt.
Kein Problem, dachte ich mir. Es war ja nicht so, dass Alison und ich ständig übereinander herfielen. Eigentlich waren wir noch nicht mal über die zweite Base hinausgekommen. Also, der liebe Bruder kann sich mal entspannen.
„Wie sieht Jacob eigentlich aus? Ist er gutaussehend? Hoffentlich nicht besser als ich, oder? Denn zwei extrem gutaussehende Männer können unmöglich gleichzeitig im selben Raum sein, sonst gerät das Universum aus dem Gleichgewicht“, sagte ich ganz lässig.
Alison seufzte genervt. „Warum musst du immer so einen bescheuerten Mist reden?“, fuhr sie mich an.
Ich kicherte. Ich dachte, Alison hätte sich an mein unreifes Verhalten gewöhnt, aber anscheinend ging ich ihr immer noch auf die Nerven.
Ich merkte, dass ich mich irgendwie auf das Abendessen mit ihren Eltern freute. Ich war bereit. Ich war nervös, aber nicht panisch. Schließlich war es ja nicht das erste Mal, dass ich die Eltern eines Mädchens kennenlernte.
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Ich zog mein bestes Hemd an und kombinierte es mit einer Jeans. Meine Haare trug ich leicht zerzaust, weil Alison mir gesagt hatte, dass sie den "Undone"-Look mochte. Zerzaust, aber nicht ungepflegt.
„Was meinst du? Sehe ich gut aus?“, fragte ich sie, als ich bei ihren Eltern ankam. Ich wollte ihre Meinung hören, weil ich nicht den Eindruck erwecken wollte, dass ich mich zu sehr aufbrezelte.
Obwohl ich vorher noch den selbstbewussten Macho gespielt hatte, wurde mir plötzlich ganz flau im Magen. Aus irgendeinem Grund machte mich der Gedanke, ihre Eltern kennenzulernen, nervös. Vielleicht war es doch zu früh. Ich hätte mit dieser Nummer noch etwas warten sollen.
Nein, das stimmte nicht.
Es waren nicht unbedingt ihre Eltern, die mich nervös machten. Aus irgendeinem Grund löste allein der Gedanke, ihren großen Bruder kennenzulernen, eine Art Panik in mir aus. Ich hatte mich immer gefragt, wie er wohl so drauf war. Wie tickte er? Was, wenn er mich auf Anhieb hasste? Und dann war ich total verwirrt, weil ich mir plötzlich so viele Gedanken machte.
Chill mal, Michael, es ist nicht das Ende der Welt, redete ich mir innerlich ein.
„Du siehst wie immer verdammt heiß aus. Aber geht es dir gut?“, fragte Alison und musterte mich aufmerksam. Sie spürte meine Nervosität. Wahrscheinlich konnte sie hören, wie mein Herz in meiner Brust einen Marathon lief.
„Mir geht es gut. Aber ähm… was ist, wenn dein Bruder mich nicht mag?“, fragte ich. Warum hatte ich das Gefühl, ausgerechnet ihn am meisten beeindrucken zu müssen? Ich kam mir total bescheuert vor, weil ich mir so viele Sorgen machte. Ich musste ihm doch nichts beweisen.
„Mach dir nicht so viele Gedanken“, kicherte sie.
Leichter gesagt als getan.
„Wenigstens habe ich dich, die mich beschützt“, grinste ich und beugte mich vor, um sie zu küssen. Ich schätze, sie hatte sich schon darauf gefreut, denn sie packte mich im Nacken und zog mich noch näher an sich, um den Kuss zu vertiefen. Ich schloss die Augen und verlor mich in dem Gefühl. Sie hatte so unglaublich weiche, sinnliche Lippen. Langsam beruhigte ich mich.
„FINGER WEG VON MEINER SCHWESTER!“
Eine tiefe, raue Stimme hinter mir ließ mein Herz einen Sprung machen. Ich löste mich von ihr, drehte mich um, sah in das Gesicht des Besitzers dieser Stimme und blickte in ein Paar smaragdgrüne Augen.