Bianca ging.
Luke legte den Bauplan, den er in der Hand gehalten hatte, abrupt beiseite. Er erhob sich, verließ seinen Arbeitsplatz und ging stattdessen auf seinen Weinschrank zu. Dort nahm er ein Glas heraus, füllte es zur Hälfte mit Wein und leerte es in einem Zug, während sich seine Stirn finster in Falten legte.
Diese verdammte Begierde!
Es war bereits recht spät, als Bianca die Firma verließ, doch zum Glück erwischte sie noch die letzte U-Bahn nach Hause.
Kaum war sie dort angekommen, antwortete sie als Erstes auf Jeans Nachrichten bei WeChat.
Anschließend holte sie ihren Koffer hervor und begann, die Dinge zusammenzusuchen, die sie für ihre morgige Reise benötigte.
In diesem Moment klingelte ihr Telefon.
Auf dem Display leuchtete Jeans Name auf.
„Schläfst du noch nicht? Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich früh ausruhen, anstatt mich anzurufen“, sagte Bianca besorgt, als sie abhob.
„Ich bin noch nicht fertig mit der Arbeit, also habe ich die Unterlagen mit ins Hotelzimmer genommen, um dort Überstunden zu machen.“ Jean fuhr fort und fragte sie: „Ich habe vorhin deine Nachricht gesehen. Warum musst du auch auf Dienstreise? Wer begleitet dich?“
„Ich weiß noch nicht genau, wer. Das erfahre ich erst morgen früh“, antwortete Bianca.
„Falls Männer dabei sind, denk daran, dich von ihnen fernzuhalten“, mahnte Jean. „Schließlich haben wir gerade erst angefangen zu arbeiten, du kennst sie also noch nicht gut genug.“
„In Ordnung, verstanden“, sagte Bianca. Unmittelbar darauf hörte sie plötzlich ein Hämmern am anderen Ende der Leitung. Es klang, als würde jemand an die Tür klopfen.
Nein, es war kein Klopfen – es klang eher, als versuchte jemand, die Tür einzutreten!
„Was ist los?“, fragte Bianca nervös.
„N-Nichts.“ Jean stammelte plötzlich, fügte dann aber hastig hinzu: „Hören wir uns später? Ich sehe nach, was draußen los ist, und melde mich dann wieder bei dir.“
Er legte auf, bevor Bianca ihm sagen konnte, er solle vorsichtig sein.
Sie senkte den Kopf, blickte auf ihren Koffer und dann auf das Telefon in ihrer Hand, dessen Bildschirm nach dem Gespräch dunkel wurde. Bianca war nun besorgt. Sie hatte Angst, dass auch Jean dort draußen in Schwierigkeiten geraten könnte – mit fremden Menschen an fremden Orten.
In jener Nacht geschah nichts mehr.
Der nächste Tag.
Gleich am frühen Morgen erhielt Bianca einen Anruf von ihrer Kollegin.
Sie wartete vor ihrem Wohnkomplex auf die Kollegin, die Müdigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war gestern Nacht bis in die frühen Morgenstunden wach geblieben und hatte auf Jeans Anruf gewartet, der ihr versichern sollte, dass alles in Ordnung war, doch er hatte sich nie gemeldet.
Sie hatte versucht, ihn anzurufen, aber sein Handy war ausgeschaltet.
Mehr als zehn Minuten später hielt ein schwarzer Bentley vor ihr. Ein Mann und eine Frau stiegen aus.
Sie stellten sich vor und lernten sich kurz kennen.
Dann stiegen die drei wieder in den Wagen.
Die Autofahrt zu der Stadt, in die sie abgeordnet waren, dauerte sieben Stunden. Da sie vor Ort ein Fahrzeug benötigen würden, hatte die Geschäftsleitung der Einfachheit halber arrangiert, dass ein männlicher Kollege einen der firmeneigenen Bentleys dorthin fuhr.
Bianca unterhielt sich unterwegs mit ihren Kollegen. Sie verstanden sich recht gut, lachten und scherzten miteinander.
Es war bereits Nachmittag, als sie Stadt H erreichten.
Als sie im Hotel eincheckten, sagte ihre Kollegin Sue zu Bianca: „Lass uns erst einmal auf unsere Zimmer gehen, uns umziehen und etwas ausruhen. Wir melden uns wieder, wenn es Zeit fürs Abendessen ist.“
„Gerne“, sagte Bianca und nickte.
Bianca brachte ihren mittelgroßen Koffer nach oben und ging in ihr Zimmer. Sie duschte, zog sich ihre Nachtwäsche an, nahm dann die Kleidung heraus, die sie für die Arbeit brauchte, und bügelte sie sorgfältig.
Als sie fertig war, hängte sie die Kleidung schon einmal auf.
Nachdem sie alle Vorbereitungen getroffen hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Es war genau vier Uhr.
Jean hatte sie seit gestern Abend kein einziges Mal angerufen. Er hatte ihr nicht einmal eine einzige Nachricht geschickt.
Nun, da sie endlich Zeit hatte, rief sie Jean an.
Sein Handy war diesmal endlich eingeschaltet.
Doch das Freizeichen tönte eine ganze Weile, ohne dass jemand abnahm.
Bianca war nun noch besorgter und rief ihn erneut an. Diesmal wurde ihr Anruf direkt weggedrückt.
„Sorry, bin gerade beschäftigt und kann nicht rangehen. Rufe dich an, wenn ich frei bin.“ Kurz darauf erhielt sie eine SMS von Jean über WeChat.
Bianca senkte den Kopf und antwortete: „Okay, ich lasse dich arbeiten.“
Es schien, als sei er zumindest in Sicherheit. Die Person, die gestern Nacht gegen seine Tür gehämmert hatte, war vielleicht nur ein zufälliger Betrunkener gewesen, der sich im Hotelzimmer geirrt hatte.
Nachdem sie auf seine Nachricht geantwortet hatte, legte Bianca ihr Handy weg und suchte nach einer anderen Beschäftigung.
Doch kaum hatte sie sich umgedreht, vibrierte ihr Telefon erneut.
Sie musste sich sofort wieder umdrehen und die Nachricht auf ihrem Display prüfen.
Es war eine WeChat-Nachricht, aber sie ergab überhaupt keinen Sinn. „Hahahaha du hast es erraten Fasernetz Eintrittsgeld iFeng...“
Der Absender war Jean, der angeblich gerade „beschäftigt“ war.
Bianca runzelte die Stirn.
„?“ Sie schickte ihm ein Fragezeichen.
Nach mehr als einer Minute antwortete Jean endlich. „Ich habe gerade gezeichnet und bin mit dem Arm versehentlich auf den Bildschirm gekommen.“ Deshalb hatte er ihr so eine wirre Aneinanderreihung von Worten geschickt.
Bianca dachte sich nichts weiter dabei.
„Ding... Dong...“
Jemand klingelte an ihrer Zimmertür.
„Wer ist da?“ Bianca war sehr vorsichtig, da sie sich an einem fremden Ort und in einer fremden Stadt befand.
Die Stimme eines Mannes mittleren Alters erklang von draußen. „Miss Rayne, ich bin Jason Doyle, Mr. Crawfords persönlicher Assistent. Ich fürchte, ich muss Sie bitten, mir die Tür zu öffnen.“
Luke Crawfords vertrtauester Spezialassistent, Jason Doyle, war ziemlich bekannt. Fast jeder in der Firma kannte ihn, und das schloss Bianca, einen Neuling, mit ein.
Sie öffnete die Tür.
„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Kaum hatte Bianca ihn begrüßt, senkte sie den Blick und sah, dass auch zwei winzige Kinder an der Tür standen.
Eines war ein kleiner Junge, das andere ein kleines Mädchen; ihre Augen strahlten und ihre Zähne blitzten weiß. Sie sahen aus wie zwei perfekte Puppen.
Jason Doyle stand in seinem Anzug da, den Rücken kerzengerade durchgestreckt. Verzweifelt sagte er: „Diese beiden sind Mr. Crawfords Kinder. Ihr Vater ist beruflich sehr eingespannt und kann sich nicht um sie kümmern, also...“
Bianca hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache.
Sie hatte keine besondere Abneigung dagegen, auf die Kinder anderer Leute aufzupassen, aber es fühlte sich einfach so seltsam an. Schließlich war sie hier, um zu arbeiten, nicht um Babysitter zu spielen.
Ein weiterer wichtiger Grund, warum sie sich nicht wirklich um die Kinder kümmern wollte, war die Sorge, dass der Anblick fremder Kinder sie immer wieder an ihre eigenen erinnern würde.
„I-Ich werde brav sein, versprochen“, sagte das kleine Mädchen leise.
Sie hob den Kopf, um Bianca anzusehen, und blinzelte mit ihren unschuldigen schwarzen Augen.
„Großer Bruder –“ Das kleine Mädchen sah, dass ihr Bruder, der kleine Junge, nichts sagte, also schmollte sie verärgert und zupfte an der Kleidung ihres Bruders, um ihn zum Sprechen zu bringen.
Bianca wandte sich stattdessen dem Jungen zu.
Der ältere Bruder war etwas größer als seine Schwester, doch obwohl er eine kühle Miene wahrte, hing er offensichtlich sehr an seiner Schwester. Deshalb hob er den Kopf und sagte zu Bianca, die noch in der Tür stand: „Ich werde auch ein braver Junge sein.“
Jason warf einen Blick auf seine Uhr und sagte: „Ich überlasse die Kinder Ihnen, Miss Rayne. Ich muss noch etwas erledigen, also verabschiede ich mich jetzt.“
Bianca hatte keine Gelegenheit, abzulehnen.
Jason ging schnell, und Bianca blickte auf die beiden Kinder hinab und sagte: „Kommt rein, ihr beiden.“
Die kleine Schwester streckte ihre kurze kleine Hand aus, um die ihres Bruders zu greifen, dann gingen sie gemeinsam in das Zimmer.
„Möchtet ihr etwas trinken?“ Bianca wusste nicht, wie man mit Kindern umging, besonders nicht mit Kindern von solch besonderem Status.
„Ich will Milch“, sagte das Mädchen und setzte sich artig auf das Sofa.
Bianca kramte eilig etwas Milch hervor. Die Milch im Hotelzimmer war extrem teuer; dieselbe Milch, die im Supermarkt 3,50 Yuan kostete, wurde hier für 89 verkauft.
Bianca zog scharf die Luft ein, als sie das Preisschild sah, dann öffnete sie den Karton, fand zwei Gläser und schenkte jedem der Kinder ein Glas ein.
Der hochmütige Junge mit dem kühlen Gesichtsausdruck trank keinen Schluck davon.
Die kleine Schwester saß auf dem Sofa, baumelte mit den Beinen, trank die Hälfte des Glases und leerte es dann ganz, wobei sie sich sogar über die Lippen leckte, um sicherzugehen, dass sie jeden Tropfen erwischte...
Bianca saß unbeholfen auf einem Stuhl, schaute die kleinen Lieblinge an und versuchte, ein Gesprächsthema zu finden. „Seid ihr zwei Zwillinge?“
„Natürlich“, sagte der hochmütige ältere Bruder. Er rollte sogar mit den Augen, sein Blick voller Verachtung für Bianca.
'Idiotin', schien er sagen zu wollen, 'meine Schwester und ich sehen uns so ähnlich. Natürlich sind wir Zwillinge!'
