„Ihr zwei", murmelt Rafe, und ich werfe einen Blick hinüber und sehe, wie er den Nasenrücken zwischen seine Finger presst, genau wie Dad es tut. „Das wird einen verdammten Flächenbrand auslösen, den ich dann ausbaden muss." „Aber du bist doch der Beste darin, unsere Probleme zu lösen!", bemerkt Jesse lachend. „Komm schon, Cousin", sagt er und gibt Rafe einen kleinen Schlag auf den Arm. „Es ist ein Abenteuer." Zwei Stunden später befinden wir uns im Güterwagen eines Zuges, der in Richtung Osten fährt, zur Kriegsfront, wo sich die Akademie befindet. Es war schockierend einfach, mich aus dem Palast zu schmuggeln, sobald ich das Hochzeitskleid losgeworden war. Jesse gab mir einfach ein paar der Kleider, die er eingepackt hatte, und nachdem ich den Saum der Hose etwa ein Dutzend Mal umgeschlagen und die Taille mit einem vom Kleid gerissenen Band zusammengebunden hatte ... ehrlich gesagt, die Kleider passen gar nicht so schlecht. „Okay", murmelt Rafe, lehnt sich in das Heu zurück, das den Güterwagen füllt, und verzieht das Gesicht, während er Nachrichten auf seinem Handy tippt. „Mama und Papa sind an Bord." „Sind sie?", frage ich mit großen Augen voller Überraschung. „Ich meine", sagt Rafe und wirft mir einen Blick zu, „ich habe ihnen keine Details darüber gegeben, wo wir sind oder wohin wir gehen, und Mama flippt total aus, weil du zum ersten Mal in deinem Leben ohne Wache aus dem Palast verschwunden bist. Aber ... sie versteht es. Und sie vertrauen uns." Wir waren immer unzertrennlich. Ich habe nicht einmal wirklich herausgefunden, dass ich ein Mädchen bin – oder dass ein Mädchen zu sein etwas anderes bedeutet, als ein Junge zu sein –, bis ich etwa acht Jahre alt war und zum Ballettunterricht gehen musste, während Rafe und Jesse zum Kampfsport gingen. Ich war am Boden zerstört, als ich herausfand, dass unterschiedliche Geschlechter bedeuten, dass wir unterschiedliche Zukünfte vor uns haben. Aber, nun ja. Ich habe ziemlich schnell herausgefunden, dass Prinzessin zu sein bedeutet, dass ich meine eigenen Verantwortlichkeiten habe. Auch wenn ich es liebte, mit Rafe und Jesse herumzutoben, lernte ich, wie man hübsch, malerisch und süß ist, weil ich wusste, dass es Mama und Papa helfen würde. Außerdem fiel es mir irgendwie leicht. Rafe und Jesse lehrten mir heimlich alles, was sie in ihrem Kampfsportunterricht gelernt hatten, weil sie nicht wollten, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Aber ich bin Mamas winzige Zwillingsschwester - zierlich mit langen roségoldenen Haaren und einem herzförmigen Gesicht. Ich bin nicht für den Nahkampf gebaut, wie Rafe und Jesse es sind, aber Dinge wie Ballett fallen mir leicht. Und während ich dachte, dass ich begierig darauf war, meine Pflichten als Prinzessin zu erfüllen, einen Prinzen zu heiraten, um unsere Nation vor dem Krieg zu retten? Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass mein Herz jemals so glücklich war wie jetzt, vor diesen Pflichten wegzulaufen und mit meinen beiden besten Freunden in einen Zug zu springen. Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum Luft holen kann. Natürlich wirft Rafe einen nassen Waschlappen auf meine Begeisterung. „Okay", seufzt er und wirft sein Handy in seinen Rucksack, nachdem er mit Mama und Papa gesprochen hat. „Was zum Teufel machen wir mit Ariel, wenn wir an der Akademie ankommen?" „Im Ernst, warum nehmen wir sie nicht einfach mit?", fragt Jesse und schlingt die Arme um seine Knie. „Was?", fragt Rafe und runzelt die Stirn. „Du meinst, wie in die Alpha Akademie?" „Klar", sagt Jesse und wirft mir einen Blick zu. „Ich meine, du hast unseren Müttern versprochen, dass wir sie beschützen, oder? Wenn wir sie im Auge behalten müssen, was ist dann einfacher, als sie an unserer Seite zu behalten?" Ich starre die Dreistigkeit von Jesses Plan an. Ich habe mein ganzes Leben lang von der Alpha Akademie gehört und immer davon geträumt, dorthin zu gehen – aber natürlich nimmt sie nur männliche Studenten auf. Und während Rafe und Jesse sicherlich den Kriegerpfad einschlagen werden, habe ich davon geträumt, einige der anderen Dinge zu studieren, die man studieren kann - wie Spionage oder die Ausbildung zum Meister der Giftmischerei. Es gibt sogar ein Gerücht, dass man Kampfmagie studieren kann, wenn man eine Affinität dazu hat. Aber ehrlich gesagt – niemand weiß wirklich, was im Inneren der Akademie vor sich geht, es ist alles streng geheim und von Geheimnissen umhüllt. Aber wann immer einer der Alpha-Absolventen in den Palast kam, um sich mit Dad zu beraten oder über die erstaunlichen Fortschritte zu berichten, die sie für unsere Nation gemacht hatten? Sie hatten immer diese Aura um sich – als ob sie es mit der ganzen Welt aufnehmen könnten. Und verdammt, habe ich das beneidet. Trotzdem – meine Träume kamen nie weit. Während wir immer wussten, dass Rafe und Jesse gehen würden, musste ich andere Pläne machen. „Nun, ich lasse sie definitiv nicht aus den Augen", grummelt Rafe, seine Stimme wird tiefer bei der bloßen Vorstellung. Er wendet seinen Blick ab und studiert mich. Ich seufze ein wenig und senke den Kopf, weil ich weiß, dass es unmöglich ist. „Es ist nicht so, dass ich dich nicht dabei haben will, Ariel", seufzt Rafe schuldbewusst. „Es ist nur kein sicherer Ort für Mädchen –" Mein Kopf fährt hoch und ich öffne den Mund, bereit zu protestieren, dass ich auf mich selbst aufpassen kann, aber mein Bruder winkt bereits ab und verwirft die Idee. „Es sind über hundert testosterongesteuerte Alpha-Männer in ihren frühen Zwanzigern, Ariel", sagt Rafe stirnrunzelnd, „ohne weibliche Aufmerksamkeit seit Monaten. Du wirst lebendig gefressen. Es wird dort Typen wie Luca Grant geben –" „Luca Grant wird dort sein?", frage ich, meine Augen weiten sich, als mein Kopf hochschnellt. Grant ist eine kleine Berühmtheit – er ist der Junioren-Schwergewichts-Boxchampion unserer Nation sowie ein ziemlich berüchtigter Frauenheld. Aber er hat sich gerade vom Boxen zurückgezogen, um aus nationalem Stolz dem Militär beizutreten. Seine Geschichte wurde in allen Nachrichten verbreitet. Und es schadet nicht, dass er ... wahnsinnig gut aussieht. Er hat diese Grübchen, die ... Nun. Seine Grübchen sind nicht der Punkt. Aber ich hatte keine Ahnung, dass er zur Akademie gehen würde oder dass er Teil von Rafe und Jesses Klasse sein würde. „Ist es nicht am einfachsten, wenn wir die Pläne einfach beibehalten?", fragt Jesse und unterbricht meine Gedanken. „Ariel kommt einfach ... mit uns." „Du bist lächerlich", spottet Rafe, starrt Jesse an und verliert ein wenig die Beherrschung. „Was, wir werden einfach in die Kandidatenbaracken marschieren, die mit einem Haufen hormoneller Alphas gefüllt sind, und sagen: ‚Oh hey, wir haben unsere kleine Schwester mitgebracht! Nicht anfassen! Finger weg!'" „Nein", sagt Jesse, seine Augen leuchten hell und eifrig. „Wir marschieren nicht mit deiner Schwester ein", sagt er, zieht seinen Rucksack herüber und kramt darin herum, zieht eine graue Tarnmütze heraus, die für alle Akademie-Kandidaten Standardausrüstung ist. Er setzt sie mir auf den Kopf. „Wir marschieren mit deinem Bruder ein." „Was!?", zischt Rafe entsetzt. „Nein, es wird funktionieren!", sagt Jesse, grinst jetzt, während er sich neben mich schiebt und beginnt, meine roségoldenen Haare unter die Mütze zu stecken. Ich grinse ihn an und erkenne, worauf das hinausläuft. „Rafe", sagt Jesse und wendet sich mit einem breiten Grinsen an meinen Bruder, „lern Ari kennen. Ari Sinclair." Rafe klappt der Mund auf, als ich lache und dann mein Gesicht verändere, versuche, hart auszusehen und mein Bestes zu geben, um einen Kerl zu imitieren. „Oh mein Gott", stöhnt Rafe und lässt sich in die einladende Weichheit des Heus zurückfallen. „Nein, absolut nicht – das wird niemals funktionieren –" „Nein, das wird es!", beharre ich, jetzt aufgeregt. „Es wird funktionieren, ich kann es schaffen! Ich bin Ari!" „Nein, bist du nicht", murmelt Rafe, seine Stimme wird noch mehr von den Händen gedämpft, die er noch immer über sein Gesicht presst. „Du bist Ariel – du machst Ballett, und du arrangierst Blumen, und du magst es, Sitzpläne zu erstellen –" „Nicht mehr", sage ich, drehe mich um und grinse Jesse an, der mir eifrig zunickt. „Jetzt bin ich Ari. Und ich bin ein Junge."