„Mama, kannst du bitte Papa verlassen?“, flüsterte mein Sohn um 21 Uhr, während ich versuchte, ihn zum Einschlafen zu bringen. Die Worte trafen mich wie ein Schlag, ließen mich für einen Moment wie erstarrt zurück. Meine Hand auf seinem Rücken erstarrte. Ein Stich, scharf und unerbittlich, durchfuhr mein Herz.
Unsere Beziehung zu seinem Vater war über die Jahre hinweg gut gewesen. Ein Kind, das in Liebe aufwächst, sollte glücklich sein, dachte ich. Wie konnte er nur so etwas denken?
„Warum sagst du das?“, fragte ich, bemüht, meine Stimme sanft zu halten, um ihn nicht zu erschrecken.
„Du lässt mich nie Fast Food oder Eis essen.“
Er war fast eingeschlafen, seine Stimme verschlafen und kindlich naiv. Amüsiert und gleichzeitig verärgert zugleich, spürte ich einen Anflug von Hilflosigkeit.
Wegen solcher Kleinigkeiten sollte ich mich scheiden lassen? Kinder waren wirklich naiv.
Sein Atem wurde ruhig und gleichmäßig. Er schlief.
Als ich mich gerade aufrichten wollte, ertönte ein Benachrichtigungston von seinem Nachttisch. Unter seinem Kissen leuchtete ein Licht. Ein Tablet. Ein Seufzer entfuhr mir.
Mein Sohn war noch jung, und ich hatte seine Bildschirmzeit streng limitiert, besorgt um seine Augen. Obwohl er oft murrte, hatte er sich bisher immer an die Regeln gehalten. Heute Abend aber hatte er das Tablet heimlich versteckt.
Als ich es herauszog und es ausschalten wollte, blieb mir der Atem stocken. Der helle Bildschirm zeigte einen Gruppenchat an.
„Happy Family“, nannte sich die Gruppe, mit einem lächelnden Emoji – sein Lieblings-Emoji, das war klar. Das Gruppenbild zeigte ein Familienfoto mit vier Personen.
Ich vergrößerte das Bild. Eine fröhliche Frau umarmte zwei Kinder. Eines davon war mein Sohn, Zachary Pelham. Er hielt ein riesiges Eis, strahlend vor Glück. Hinter ihr stand mein Mann, Steven Pelham.
Sein Blick auf die Frau war so zärtlich, so wie er mich angesehen hatte, als wir uns kennenlernten. Ein Stich, wie mit einer Nadel, durchfuhr mein Herz. Ein unerbittlicher Schmerz überkam mich. Doch mein Blick blieb an dem Namen der Frau hängen.
Zachary hatte sie „Mama“ genannt.
Ein Schock. Zitternd klickte ich auf ihr Profil. Ihr Spitzname: „Jessica“.
Jessica… Jessicas Shardlow, Stevens erste Liebe?
Eine unwirkliche Absurdität überkam mich, als wäre ich im Traum. Mein Mann und mein Sohn hatten einen Familien-Chat mit seiner ersten Liebe. Und ich war die Einzige, die zurückgelassen wurde. Sie hatten ein neues Zuhause geschaffen.
Ein Würgegefühl schnürte mir die Kehle. Der Chat war voll von Nachrichten. Meine Finger scrollten benommen nach oben.
Wir hatten auch einen Familien-Chat, die drei von uns. Aber abgesehen von meinen gelegentlichen Nachrichten an Steven, wann er zum Abendessen kommen würde, glich er einer Geisterstadt.
Plötzlich schickte „Mama“ ein Video. Zitternd öffnete ich es. Es war offensichtlich sorgfältig bearbeitet.
Eine Minute lang blitzten unzählige Momente auf: gebratenes Hähnchen, Cola, ein Riesenrad, ein Karussell und vieles mehr. Zacharys Gesicht strahlte vor Freude. Selbst Steven, der seine Gefühle sonst verbarg, konnte seine Zuneigung nicht verbergen.
Ich konnte mich kaum auf die anderen beiden konzentrieren, denn das Video verlangsamte sich und blieb schließlich auf Zacharys Gesicht hängen. Er kniff die Augen fest zusammen, die Hände umklammert, während er ernsthaft vor einem großen Kuchen einen Wunsch äußerte.
Seine unschuldige, herzergreifende Stimme war zu hören: „Ich wünsche mir, dass Frau Jessie meine Mama wird. Ich wünsche mir, dass Papa, Frau Jessie, Cody und ich für immer zusammen sein können!“
Applaus. Jessica und ihr Kind, Cody Gibson, klatschten, wünschten seinen Traum wahr. Auch Steven lächelte.
Sie sahen aus wie eine glückliche, perfekte Familie.
Und ich? Ich konnte kaum noch atmen vor Schmerz.
Dann schickte „Mama“ eine Sprachnachricht. Ihre Stimme war lebhaft und fröhlich, wie die einer unterstützenden älteren Schwester, die immer auf Zacharys Seite stand.
„Schatz, du hast gesagt, du willst, dass ich deine Mama bin. Und du hast gesagt, egal wer, nur nicht deine jetzige. Ich habe mich gefragt, warum du deine Mama so nicht magst.
Ich habe erst jetzt erfahren, dass du sie zu kontrollierend findest. Sie lässt dich nie essen oder spielen, was du willst. Damit du glücklich aufwachsen kannst, werde ich in diesem Chat von jetzt an deine neue Mama sein. Dieser Ort wird das Zuhause für uns vier sein.“
Hatte Zachary das wirklich gesagt? Egal wer, nur nicht ich?
Immer und immer wieder hörte ich mir die Nachricht an, konnte es immer noch nicht glauben. Das Kind, das ich geboren hatte, in das ich all meine Energie gesteckt hatte, konnte mich so sehr hassen?
Ich schloss die Augen. Die Tränen strömten unaufhaltsam.
Zachary hatte immer einen empfindlichen Magen gehabt. Schon kleinste Mengen falscher Nahrung führten zu Bauchschmerzen. Als Kleinkind war er wegen Gastroenteritis mehrmals im Krankenhaus gewesen.
Deshalb war ich so vorsichtig mit seiner Ernährung gewesen. Ich bereitete täglich sorgfältig ausgewogene Mahlzeiten zu, in der Hoffnung, seine Gesundheit zu verbessern. Aber all meine Bemühungen hatten sich in seinen Augen in Verletzungen verwandelt.
Kein Wunder, dass Zacharys Gastroenteritis in letzter Zeit wieder aufflammte.
Ich war verzweifelt, konnte den Grund nicht finden. Das war die Wahrheit.
Benommen hörte ich mir die Sprachnachrichten an, die Zachary zuvor geschickt hatte. Jeder einzelne Vorwurf fühlte sich an wie ein scharfes Messer, das in mein Herz stach und mir den Atem raubte.
Dann hörte Zachary plötzlich auf zu schreiben. Er wusste, dass ich gekommen war, um ihn ins Bett zu bringen. Er konnte mich nicht wissen lassen, dass er heimlich das Tablet benutzte. Er musste sich mir fügen, auch wenn er mit Jessica weiter chatten wollte.
Und jetzt schlief er.
Ich biss mir auf die Lippe, die Tränen liefen über mein Gesicht, als ich ihn ansah. Er sah so perfekt aus, wie eine Puppe. Er sprach mit solcher Unschuld, sagte, was er fühlte, ohne nachzudenken.
Aber…
Lügen schmerzten nicht. Die Wahrheit tat es.
Ich glaubte immer, dass er mich jetzt vielleicht streng finden würde. Aber er würde schließlich verstehen, dass ich nur versuchte, das Beste für ihn zu tun, als seine Mutter. Doch ich hätte nie gedacht, dass er mich so sehr hassen könnte.
Herzschmerz und Wut überkamen mich.
Aber ich hatte den Kontakt zur Realität nicht verloren. Ich wusste, Zachary war immer noch nur ein Kind. Er war wie eine leere Tafel. Er wusste oder verstand nichts.
Sein starker Widerwille gegen mich und seine Zuneigung zu Jessica konnten nur von Steven herrühren.